Islam konkret

                                                Diskussionsbeiträge und Anregungen

 
 

Vergleich: Sodom-Mythos und der Qur'ân-Text über Lot und sein Volk

Der Sodom-Mythos in der Qur'ân-Interpretation


Die Frage, ob Homosexualität im Islam erlaubt oder verboten ist, wird im allgemeinen von  den Muslimen anhand des Berichts über Lot und sein Volk im Qur'ân beantwortet.

Die muslimische Rechtsliteratur wie auch die Mehrheit der Qur'ân-Kommentatoren  gehen von einem Verbot aus. Das drängt sich scheinbar geradezu auf, wenn man die Geschichte von Lot und seinem Volk liest und dabei den Sodom-Mythos in seine Überlegungen unkritisch einbezieht. Weiterhin spielen Hadîthe ein Rolle, die Homosexualität verurteilen oder verbieten. Aber es ist kein Hadîth SaHîH darunter, sondern es handelt sich durchweg um schwache Überlieferungen.

Die muslimischen Rechtsschulen wurden zu einer Zeit gegründet, als die muslimische Hadîth-Forschung und -Kritik noch in der Entwickelung war und den Begründern nur eingeschränkte Kriterien zur Beurteilung vorlagen. Denn es zeigte sich im Laufe der Zeit immer mehr, dass die Mehrheit der angeblichen Hadîthe Fälschungen und Erfindungen waren.

Wenn wir uns in einer Frage an den Qur'ân wenden, so sollten wir niemals vergessen, dass der Qur'ân uns immer wieder zum Nachdenken (arabisch: tafakkur) auffordert und dazu, unseren 'aql (Verstand, Vernunft, Intellekt) zu benutzen, d.h. wenn wir eine Stelle in ihm verstehen wollen, sollten wir darüber nachdenken, auch kritisch nachdenken, und nicht nur zu Wiederholern zuvor geäußerter Meinigen werden (wie viele Muslime es oft tun). Wir müssen uns mit den Bedeutungen der arabischen Wörter beschäftigen, sie im Zusammenhang lesen, die Logik der Textstellen nachvollziehen.

Der Sodom-Mythos beruht auf der Vorstellung, dass die Männer einer bestimmten Stadt zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte durchweg homosexuell gewesen sein sollen. Diese Auffassung finden wir schon in alten tafsîren (Qur'ân-Kommentaren) als Überlieferungen von Leuten, die man als sogenannte maulâs oder besser mawâlî (arab. Plural von maulâ).kannte, die nach ihrer Konversion sich einem arabischen Stammesverband als maulâ = Klient anschlossen..  

Zwei Beispiele aus aT-Tabarî:

aT-Tabarî, jâmi'u`l-bayân fî tafsîri`l-qur‘ân,Teil 20, S. 93:  Übersetzung ohne den isnâd:  

Zu Seinem Wort: ‚Wollt ihr etwas Abstoßendes begehen, worin keiner in aller Welt euch vorangegangen ist?‘ sagte er ('amr ibn dînâr, maulâ): ‚Kein Mann besprang einen Mann, bis es das Volk Lots tat‘.

aT-Tabarî, jâmi'u`l-bayân fî tafsîri`l-qur‘ân,Teil 20, S. 2:  Übersetzung ohne den isnâd:  

Zu Seinem Wort: ‚Denn sie sind Leute, die sich reinhalten‘ sagte er (mujâhid, maulâ): ‚Von den Aftern der Männer und den Aftern der Frauen‘ - um sie zu verspotten.Bei aT-Tabarî finden wir neben einer homosexuellen Interpretation auch andere Deutungen, die sich auf eine bestimmte Varianten des Sexualverkehrs beziehen wie das obige Zitat zeigt. Und sie gehen auf Aussagen von den mawâlî zurück.
Die mawâlî waren Konvertiten in der Frühzeit muslimischer Geschichte, die zuvor in der Regel Christen, aber auch Juden waren, und sie bildeten bald die Mehrheit der Muslime. Mit der Konvertierung verloren sie nicht nur ihre früheren Posten in Kirche oder Synagoge, sondern als Folge auch ihre Einkünfte. Sie waren zuvor Mitglieder von religiösen Gemeinden, hatten dort gegebenenfalls leitende Stellungen inne oder sie waren Mönche, Priester, Bischöfe. Im Unterschied zu einfachen Gemeindemitgliedern hatten sie eine religiöse Ausbildung genossen. Sie brachten ihre Kenntnisse mit in die neue Religion und lehrten sie die anderen Muslime, denen eine solche Ausbildung überwiegend fehlte. Sie ergänzten die Qur'ân-Texte oftmals mit ihren Kenntnissen, um sie so den von ihnen für wahr gehaltenen „Fakten“ willkürlich anzupassen. So wurden sie deshalb vielfach auch bald als Lehrer und Gelehrte anerkannt und geschätzt.
Lot lebte in einer Stadt als Fremder unter dem Schutz des Gastrechtes, d.h. mit vielen rechtlichen Einschränkungen. Als seine Besucher zu ihm kamen, bot er ihnen sein Gastrecht an, um ihnen einen gewissen Schutz zu geben.

Der älteste Bericht über Lot und sein Volk ist in der Bibel zu finden, im alten Testament, und zwar an der Stelle 1 Mose 18, 20 - 25, 32 und 1 Mose 19, 1 - 16:.Die entscheidende Stelle für die späteren spekulativen Interpretationen ist 1 Mose 19, 5:

Sie (die Leute aus Sodom) riefen Lot und sagten: 'Wo sind die Männer, die heute Abend zu dir gekommen sind? Bringe sie zu uns heraus, damit wir sie erkennen!'

Das Wort „erkennen“ oder „kennenlernen“ wird in der traditionellen Bibelinterpretation als „geschlechtlich verkehren“ gedeutet.

Derrick Sherwin Bailey, ein anglikanischer Theologe, Homosexuality and the Western Christian Tradition, S. 2 - 16 sagt dazu

So findet man yâdha' (hebräisch für kennen, kennenlernen) also nur ausnahmsweise im geschlechtlichen Sinne gebraucht [...].“

Linguistische Betrachtungen allein unterstützen daher [... die Ansicht], dass es hier nichts weiter als ‘kennenlernen’ bedeuten kann.“

Für das Alte Testament zeigt Derrick Sherwin Bailey, Homosexuality and the Western Christian Tradition, mit überzeugenden Argumenten, dass die verbreitete Sodom- und Gomorrha-Deutung weder vom Text noch von den Bezugnahmen an anderen Stellen des Alten Testaments sich auf die Bibel stützen kann.
Was zeichnete die Deutung der Verse über Lot und sein Volk bei den frühen Muslimen aus? Für sie war Lot unter Menschen aktiv, die sie als Folge des Einflusses der mawâlî für homosexuell hielten, und zwar wegen der Fehlinterpretation eines einzigen Verses in einem der Mose-Bücher.
Es gibt im qur'ânischen Bericht ausreichend Hinweise, dass der Qur'ân den Sodom-Mythos nicht unterstützte, sondern Lot und sein Volk mit deutlichen Worten ganz anders darstellte. Über diese Aussagen setzten sie sich hinweg, nahmen nicht wahr, wie wichtig sie für das Verständnis waren und übergingen sie in der Regel zumeist kommentarlos. Sie interpretierten als Folge ein arabisches Wort (schahwa) ausschließlich in einer sexuellen Bedeutung, obwohl dieses an allen anderen Stellen, wo es im Qur'ân verwendet wurde, eine solche Bedeutung nicht hatte. Und im Laufe der Zeit, der Jahrhunderte, wurde dieses Wort im Zusammenhang mit Lot und seinem Volk nur noch sexuell verstanden. Missdeutungen werden durch Jahrhunderte lange Akzeptanz nicht zur Wahrheit, bleiben bloße Missdeutungen. Aber manche Muslime halten es nicht für möglich, dass eine so lange Tradition ein Irrtum gewesen sein kann.
Sie stellen sich nicht einmal die Frage, wie die Männer einer Population plötzlich homosexuell geworden sein könnten.
Wenn man biologische Fakten berücksichtigt, so kann es bei einem Menschen eine genetische Veränderung gegeben haben. Wenn diese dann noch dominant war und von ihm weitervererbt wurde, so könnten alle seine Kinder sie aufweisen und auch weitervererben an ihre Kinder usw. So würde es wohl viele Generationen dauern bis sie sich gegebenenfalls in dieser Familie durchsetzt. Aber eine Bevölkerung besteht ja nicht nur aus den Nachkommen einer Person, sondern aus vielen anderen, die dann diese genetische Veränderung nicht haben. Weiterhin ist anzunehmen, dass die als homosexuell geborenen Männer weniger bzw. keine Nachkommen hatten, weil ihr geschlechtliches Interesse Männern und nicht Frauen galt. Man kann also diese biologischen Überlegungen als irreal ausschalten. Wenn man von einem „Wunder“ ausgeht - ein Wort, das der Qur'ân an keiner Stelle verwendet, das jedoch in späterer Zeit unter muslimischen Theologen gebräuchlich wurde -, so macht das ebenso wenig Sinn. Ein solches „Wunder“ könnte nur von Allah veranlasst worden sein. Damit wären die von diesem „Wunder“ Betroffenen nicht einmal zu tadeln, weil Allah sie dann geschaffen so hätte.
Gegen die Vorstellung von Wundern spricht auch der Vers (35:43).„In Allahs Vorgehensweise wirst Du nie eine Änderung finden; und in Allahs Vorgehensweise wirst Du nie einen Wechsel finden“
Glaubt etwa jemand ernsthaft, Allah erschaffe Menschen mit sehr vitalen Eigenschaften, um diese dann zu verbieten, zu verurteilen und sie dann noch dafür zu bestrafen? Und schuf Er etwa das Volk Lots, um der Welt ein Beispiel zu liefern, dass Homosexualität verboten sei? Hätte nicht ein klares Wort in Seiner Offenbarung gereicht? Jedenfalls spricht der Qur'ân nicht davon, sondern nur „Gelehrte“ mit ihren oftmals sehr verqueren Vorstellungen und kranken Phantasien.Man merkt in dieser Situation, dass Muslime in ihrer Mehrheit nicht ihre Fähigkeit zum (auch kritischen) Nachdenken nutzen, sondern sie stützten und stützen sich stattdessen mit dem Sodom-Mythos auf eine haltlose Legende, Fabel, auf ein Märchen. Das aber kann niemals die Basis für Argumente sein, die zur Interpretation der Worte Allahs verwendet werden. Darüber herrscht wohl einhellige Übereinstimmung unter Muslimen - jedoch offenbar mit Ausnahme der Geschichte von Lot und seinem Volk.

Die Verse über Lot und sein Volk ohne Berücksichtigung des Sodom-Mythos

Über die Lage oder Überreste der Stadt Sodom gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Im Archäologisches Bibel-Lexikon, Hrsg. Avraham Negev, S. 412, heißt es dazu:

Die Versuche S. [= Sodom] zu lokalisieren, blieben bislang ohne Erfolg. Es wurde am Süd- oder Nordende des Toten Meeres vermutet und sogar auf seinem Boden. Der Name „S.“ hat sich in dem arabischen Gebel Usdum, einem Bergrücken aus Salz nahe dem Südwestufer des Toten Meeres erhalten.“

Mit anderen Worten: Wir wissen nichts über die Stadt, und da selbst ihre Lage unbekannt ist, gibt es auch keine Schriftfunde, die über das soziale Leben Auskunft geben könnten. Was über sie und ihre Bewohner später erzählt wurde, ist damit nichts als bloße Spekulation.
Was sagen die Verse im Qur'ân über Lot, seinen Tadel gegenüber seinem Volk Volk und das Volk aus?
Kein Wort im Qur'ân deutet an, dass die Passagen von Lot und seinem Volk im sexuellen Sinne zu verstehen seien. Ganz im Gegenteil. Es gibt 4 Passagen  (7:80, 81; 26:165, 166; 27:54, 55; 29:28, 29), in denen Lot sein Volk tadelt, die alle mit denselben Worten “wa lûTan idh qâla li-qaumi-hi (و لوطا اذ قال لقومه) ” - „und (gedenke) Lots, als er zu seinem Volk (nämlich: allen Männern und Frauen) sprach“, eingeleitet werden. Ob Lots Worte in seinem Tadel (7:81, 27:56) „Kommt ihr zu den Männern anstatt/und nicht zu den Frauen bei einem Begehren ( شهوة)“ eine sexuelle Bedeutung haben oder nicht, kann man sehr leicht durch Anwendung einfacher Logik prüfen: Sein Tadel richtet sich an القوم (al-qaum), alle Männern und Frauen seines Volkes. Wenn er auf beide Gruppen anwendbar wäre, könnte er eine sexuelle Bedeutung haben, wenn nicht, müssen wir diese Bedeutung vermeiden. Angewendet auf die Frauen: Glaubt wirklich jemand, dass das beabsichtigte Ergebnis seines Tadels “kommt ihr zu den Männern anstatt zu/neben den Frauen” ist, dass Lot wollte, dass die Frauen sich lesbisch verhalten? Warum sollte er das tun?
Die Interpretation des Qur'âns mit dem Sodom-Mythos im Hintergrund ist ganz klar nicht im Einklang mit dessen Worten, nach denen Lot das ganze Volk anspricht, aber sein Tadel nur in Bezug auf die Männer im Volk zu gelten habe, obwohl der Einschub „wa lûTan idh qâla li-qaumi-hi (و لوطا اذ قال لقومه) ” - „und (gedenke) Lots, als er zu seinem Volk (nämlich: allen Männern und Frauen) sprach“ an allen 4 Stellen gesondert wiederholt wird. In den beiden vorgenannten Versen wird das Wort شهوة (schahwa) verwendet, das zumeist als sexuelles Begehren verstanden wird. Das Wort schahwa kommt einschließlich der Verbformen an weiteren 11 Stellen im Qur’an vor:- schahawât (pl.): 3:14, 4:27 und 19:59- als Verbum (VIII. Stamm): 16:57, 21:102, 34:54, 41:31, 43:71, 52:22, 56:21, 77:42. An allen diesen Stellen hat es ganz klar keinen sexuellen Bezug. Dieser entstand und verstärkte sich erst durch die übliche Qur'ân-Interpretation der Verse von Lot und seinem Volk. Wie bereits betont. gibt es  keine historisch verlässlichen Zeugnisse über Lot und sein Volk und das, was in ihrer Stadt geschah. Es gibt nur eine Erwähnung im Alten Testament der Bibel, wo ein einziges Wort in einem der Bücher Mose zu einer verbreiteten Fehlinterpretation führte (die Quelle für bestimmte mawâlî موالي-) ـ -Überlieferungen). Wenn es nun feststeht, dass die Bibelinterpretation nicht durch den entsprechenden Wortlaut gedeckt ist und wenn nach der Aussage des Qur'âns der Tadel Lots keinen sexuellen Hintergrund hat, sollten wir überlegen, worauf sich Lots Tadel gegenüber den Leuten bezogen hat.
Lot tadelt das Verhalten der Männer und der Frauen, an dem also beide Gruppen ihren Anteil haben. Sie kommen nur zu den Männern bei einem Begehren, d.h. bei für sie wichtige Angelegenheiten, wenden sich aber nicht an die Frauen. Mit anderen Worten: Nur die Männer haben das Recht und die Macht, dahingehend aktiv zu werden und darüber zu entscheiden. Das deutet mehr als deutlich auf eine Geringschätzung und Diskreditierung von Frauen hin. Die Rechtsordnung wird sowohl von den Männern als auch den Frauen akzeptiert, obwohl sie in dieser Form eine fâHischa (eine abscheuliche, abstoßende Sache) ist, wie der Qur'ân sagt.

Worum geht es im Tadel von Lot seinem Volk gegenüber? Das Abstoßende, das Lot bei dem Verhalten der Männer und Frauen rügt, ist ein historisches Faktum, das es bei anderen Menschen vor Lots Volk noch nicht gab. Es ist ein historisch erstmaliges, sozial einzustufendes Phänomen, das nichts mit sexuellem Verhalten zu tun hat, sondern mit der Rechtlosigkeit und der untergeordneten Rolle der Frauen, die von allen Männer und Frauen als gegeben akzeptiert wird, so dass von beiden Gruppen nur Männer bei wichtigen Angelegenheiten (schahwa) konsultiert werden. So bot Lot sogar seine Töchter dem Volk an als Garanten oder Geiseln (für das Wohlverhalten seiner Gäste). Aber das Volk (die Männer und Frauen) wies sie zurück mit den Worten, dass sie keinen Haqq (حق = Recht, Anspruch) auf sie hätten (11: 79), sie sagen nicht: Kein sexuelles Begehren/Verlangen. Das bedeutet, dass es hier um eine Frage von rechtlicher Bedeutung geht, nicht um sexuelle Wünsche. Lot zeigte durch sein Angebot, dass Frauen den Männern gleichwertig sind, sogar in dieser speziellen Situation.


Man sieht also, dass durch Einschluss des Sodom-Mythos in die Interpretation der Sinn der Aussage des Qur'âns verfälscht wird. Und das sollten wir, das müssen wir vermeiden und Allahs offenbarte Worte so verstehen, wie Er sie uns gegeben hat - ohne Verdrehungen und Umdeutungen.


Möge Allah uns die Einsicht und die Kraft geben.